25
Jan
2010

Das Ende der Straße.

» "Ich war fast ein Jahr lang in Therapie." Wie leicht es fiel, das auszusprechen. Vielleicht gerade, weil sie ihn kaum kannte. "Da reden sie dir ein, dass nichts von dem real ist, was du siehst und hörst. Nichts von den interessanten Dingen. Ganz gleich, was du glaubst oder nicht glaubst: Alles nur in deinem Kopf, sagen sie. Alles nur, weil du verrückt bist."
"Aber du bist nicht verrückt", sagte er.
"Ich könnte so irre sein wie nur sonst wer, und du hättest keine Ahnung davon. Eine Axtmörderin. Fucking-Freddy-Krueger aus deinem schlimmsten Alptraum." Sie wandte langsam den Kopf und musterte ihn. Sein schönes, offenes Gesicht, das innerhalb eines Augenblicks düster und verschlossen sein konnte. Den Schwung seiner Lippen. Seine grünen Augen, deren Blick ein wenig zu tief in sie drang, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Es hätte so einfach sein können. Nur war sie eben sie, und einfach lag in ihrem Fall auf der anderen Seite des Globus. Irgendwo hinter Australien am Südpol.
Sie hatte Problme mit zu großer Nähe. Und sie konnte sich selbst nicht mehr vertrauen, ganz zu schweigen einem anderen. Sie wich Begegnungen und Gesprächen aus, ohne zu wissen, warum. Innerlich war sie so verdreht und verknotet wie einer der wilden Olivenbäume, die überall auf der Insel wuchsen. Da waren Bilder und Wörter und Emotionen, die ohne ihr Zutun Schmerz in ihr heraufbeschworen, echten körperlichen Schmerz, der aus ihrem Unterleib in alle Winkel ihres Körpers strahlte.
Sie war ein Alptraum, vor allem ihr eigener. Und doch glaube sie ihm, was er da sagte, und alles in ihr schrie danach, sofort alle Schutzwälle hochzufahren und die Tore zu verbarrikadieren.
Es wäre nur fair gewesen, ihm das zu sagen. Ihm auf der Stelle klar zu machen, dass sie die Scheißtitanic war, deren Sog ihn mitreißen würde, wenn er nicht schnell genug ins Rettungsboot sprang und das Weite suchte.
Stattdessen beugte er sich vor, um sie zu küssen.
Sie wartete. Zögerte. Dann zog sie den Kopf zurück, bevor sich ihre Lippen berühren konnten. Einen Herzschlag lang sah er verletzt aus, aber dann lächelte er, blinzelte in die Sonne und sagte: "Wenn es soweit ist, dann will ich dabei sein." «

Kai Meyer. Arkadien erwacht. Leseprobe. Ohmeingott.
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bright side.

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Ich hab dich lang nicht mehr gesehen.

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